Presse- und Ausstellungstexte

Sperrig, farbenfroh und befremdlich

Hamburger Abendblatt 1987 / von Alexandra zu Knyphausen  ... zum Artikel

Wenn Sisyphos zum Akrobaten wird

Hamburger Abendblatt 1999 / von Evelyn Preuss  ... zum Artikel

Farbe wiegt Material auf

Holzskulpturen von Matthias Rating in der Galerie Hans Barlach
TAZ 1987 / von Susanne Weingarten  ... zum Artikel

Rating: Skulpturen aus Holz

Hamburger Abendblatt 1999 / von Evelyn Preuss  ... zum Artikel

Evelyn Preuss über Rating

Ansprache zur Vernissage im Künstlerhaus Bergedorf / 1999  ... zum Artikel

Hanns Theodor Flemming über Rating

Ansprache zur Vernissage in der Galerie Barlach / 1987  ... zum Artikel

Ute Klappschuweit über Rating

Kunsthalle Hamburg / 2006  ... zum Artikel

Dr. Jürgen Fitschen

Ansprache zur Vernissage im Rathaus Stade / 2014  ... zum Artikel

 



Sperrig, farbenfroh und befremdlich

Hamburger Abendblatt 1987 / von Alexandra zu Knyphausen

Wild und zerklüftet, körperhaft und immer wieder fast brutal durchstoßen von kräftigen Keilen sind die Eichenholz-Skulpturen von Matthias Rating (51). Die Galerie Hans Barlach zeigt zum zweiten Mal Skulpturen dieses 1936 in Breslau geborenen, in Hamburg aufgewachsenen und heute im schwedischen Göteborg lebenden Malers und Bildhauers. Rund zwanzig Arbeiten unterschiedlicher Größe sind zu sehen, darunter meterhohe Boden- und kleinere Hängeskulpturen, die allesamt weit entfernt sind von Handlichkeit. Vielmehr wirken sie durch Lebendigkeit, mit der sie sperrig, aber doch nicht abweisend in den Raum hineinragen. Das sie fast alle ausgesprochen bunt sind, ist neu für die Hamburger, denn 1984 zeigte Rating noch unbemalte Plastiken. Heute benutzt er kräftige Wachsölfarben, deren Pigmente er mit Harzen anrührt. "Mit der Farbgebung will ich der physischen Dominante von Raum, Zeit und Masse psychische Energie entgegensetzen", sagt Rating. Das gelingt ihm überzeugend und ohne zu langweiligen Ergebnissen zu kommen. Immer wieder findet er neue Möglichkeiten, seiner Gestaltungskraft und kreativen Mutwilligkeit Ausdruck zu geben und dabei dem Betrachter Altbekanntes zum Wiedererkennen vor Augen zu führen. Sexuelle Themen stehen dabei gleichwertig neben Naturerscheinungen und den Errungenschaften der Technik. Ratings Fähigkeit zu formen berührt manchmal befremdlich, aber sie zeugt auch von ungebrochener Lebenskraft.




Wenn Sisyphos zum Akrobaten wird

Hamburger Abendblatt 1999 / von Evelyn Preuss

Hamburg - Die Kunst war lange bildend, eh sie schön war - erkannte Goethe. Auf die Gegenwartskunst trifft sein Dictum jedoch nur eingeschränkt zu. Denn ihr ist nicht nur die Schönheit abhanden gekommen, oft will sie auch gar nicht mehr bildend sein. Umso überraschender die Begegnung mit Werken wie denen des aus Breslau gebürtigen Hamburger Bildhauers Matthias Rating. Sie sind bildend, sogar sinnbildend und auf ihre Weise schön. Die Hauptkirche St. Katharinen bietet den übermannshohen und gelegentlich weit ausladenden Holzskulpturen den nötigen Raum, um ungestört voneinander ihre Aura entfalten zu können. Vielgestaltig und immer tief schwarz gebeizt, zuweilen mit einigen Farbakzenten versehen, sprechen sie Wissbegier und Schaulust gleichermaßen an. Was zuerst auffällt, ist die Kugel, die als allen gemeinsames Gestaltungselement wie ein Leitmotiv auftritt ... … der um seines Vorteils willen mit den Menschen seine Possen treibt. Nicht nur das, er ist so gerissen, dass er sogar den Tod zeitweilig in seine Gewalt bringt und kein Mensch mehr stirbt. Die Strafe erwartet ihn im Hades. Dort muss er bis in alle Ewigkeit einen schweren Stein auf einen Berg walzen, der kurz vor dem Gipfel jedes Mal wieder in die Tiefe rollt.

Sinnlose Quälerei


Der Mythos ist ein Symbol für den Menschen, der sich immer aufs Neue quält, obwohl er weiß, dass es sinnlos ist. Diese Deutung liegt Ratings sechs Meter langen Holzschnitten zu Grunde, die an den Pfeilern des Kirchenschiffs hängen. In den Plastiken bricht ein anderes Verständnis der Sisyphos-Figur durch. Obgleich zur ewigen Mühsal verdammt, lässt Sisyphos sich nicht unterkriegen, und dank seiner Findigkeit gelingt es ihm, sich Abhilfe zu verschaffen. Er wird zum Akrobaten, der auf einer senkrecht stehenden Scheibe liegend die Balance hält, während er über seinen Körper geschickt eine Kugel mit einem Schwingbrett und einer weiteren …




Farbe wiegt Material auf

Holzskulpturen von Matthias Rating in der Galerie Hans Barlach
TAZ 1987 / von Susanne Weingarten

Holz muss lange Jahre lagern, bis ein Bildhauer es verarbeiten kann Holz ist ein sensibles Material, das jede Bearbeitungsspur zeigt. Anders als bei Ton oder Gips kann keine Veränderung des Stoffs zurückgenommen werden. Matthias Rating könnte Vorträge halten über die Eigenschaften und Vorzüge von Holz. Er arbeitet seit Jahren damit. Seine jüngsten Skulpturen sind zurzeit in der Galerie Hans Barlach zu sehen. Die neun Arbeiten, teils Boden-, teils Wandobjekte, bestehen aus vielen Einzelteilen. Holzpflöcke, Stecken, Klötze und Scheite sind zusammengefügt zu abstrakten Raumformationen. Es sind Skulpturen ohne hinten und vorne, die sich mit jedem Schritt des Betrachters verändern. Sie spielen mit dem Raum, strecken vorwitzig rote Holzstacheln nach außen, ragen weit in die Höhe und Breite, umschließen Zwischenräume. Alle Holzstücke sind bearbeitet, Rating zeigt Spuren von Hohleisen oder Beil, dennoch wirken die Formen organisch, manche Teile erinnern an Äste oder Knochen. Anders als noch vor drei Jahren, als der Bildhauer seine erste Ausstellung in dieser Galerie hatte, bemalt er das Holz heute in klaren, starken Farben. Sie geben den Arbeiten eine Lebendigkeit, die vergessen lässt, dass die Konstruktionen oft Zentner schwer sind. Für Matthias Rating ist Farbe "eine Dimension dazu": Sie kann ein Gegengewicht sein, um das Material nicht zu dominant wirken zu lassen; sie kann Strukturen betonen. Und sie liefert, wie Rating es nennt, "psychische Energie", die sich den statischen Komponenten von Raum und Masse entgegensetzt. Der Bildhauer macht sich kein Konzept für seine Skulpturen, sie wachsen langsam, er arbeitet immer wieder spontan an ihnen, meist über mehrere Jahre. Sie sollen wie im Dialog entstehen, zum Gegenüber werden, ein Stück Leben verkörpern. In seinen Arbeiten, sagt Rating, wird das Zusammengesetzte getrennt in die Elemente der Zusammensetzung. Und dann versucht er, daraus wieder eine neue Ganzheit zu schaffen: eine Identitätssuche bei jeder Skulptur, umgesetzt in eine Konstruktion aus Formen und Farben. Die Ganzheit, der Gesamteindruck seiner Arbeiten ist vielschichtig und vielperspektivisch. In jeder Skulptur stecken aggressive und sehr harmonische Elemente. Sie heben sich nicht gegenseitig auf, aber sie widersprechen sich auch nicht. Sie stehen nebeneinander, sie gehöhren zusammen. Sie sind Aspekte derselben Skulpturenpersönlichkeit.


Rating: Skulpturen aus Holz

Hamburger Abendblatt 1999 / von Evelyn Preuss

Die neueste Folge der "Einblicke" im Glasgang des Kunsthauses bestreitet der Bildhauer und Maler Matthias Rating. Seine zweiseitige Orientierung schlägt sich nicht zuletzt darin nieder, dass er seine Skulpturen alle farbig fasst. Die ihnen ohnehin innewohnende Dynamik treibt er so noch um einige Grade voran. Rating wurde 1936 in Breslau geboren und wuchs in Hamburg auf. Nach dem Berliner Studium siedelte er sich für 20 Jahre in Schweden an. Vor zwei Jahren kehrte er nach Hamburg zurück und wurde durch Ausstellungen bei Hans Barlach bekannt. Das von Rating bevorzugte Material ist das Holz, das in der jüngeren europäischen Plastik gegenüber dem Stein und Metall eher eine Außenseiter-position einnimmt. Es gilt als anspruchsvoll, weil man vorgegebene Strukturen wie die Maserung bei der Gestaltung unbedingt berücksichtigen muss. Für Rating stellt dies kein allzu großes Handicap dar, weil er in bewegten und anpassungsfähigen Formen arbeitet. Auch beabsichtigt er nicht immer, das Holz als solches zur Wirkung zu bringen. Oft ahmt er Formen nach, die für andere Werkstoffe wie etwa Eisen typisch sind. Da gibt es Bohrlöcher und Teile, die Zangen und Scheren gleichen. Kolben springen vor und Stangen stechen in die Luft. Die Anspielungen auf Maschinen sind nur einer von mehreren Aspekten, unter denen Ratings Skulpturen zu betrachten sind. Gleiches Recht räumt er körperlichen und organischen Formen ein, die unregelmäßig sich verbreiternd und verklumpend abrupt abbrechen können. Voller Bewegung und ungezügeltem Formenreichtum verströmt jede Plastik gebündelte Lebensenergie.




Evelyn Preuss über Rating

Ansprache zur Vernissage im Künstlerhaus Bergedorf / 1999

Holz, vor allem das der Eiche - kein anderes Arbeitsmaterial sagt dem Bildhauer Matthias Rating mehr zu als dieses. Er lässt es aus den unendlichen Wäldern Schwedens kommen oder schlägt es hinter seinem Bergedorfer Atelier. Ihm erscheint es unübertroffen, "weil es so sensibel" und doch dem Werkzeug gehörigen Widerstand entgegensetzt. Das sagt er nicht von ungefähr. Von seinen Berliner Anfängen her kennt er auch die Schwerarbeit am Stein. Die Entscheidung für das Holz gehörte bei ihm zum Prozess der künstlerischen Selbstfindung, und sie hat schließlich auch die Gestalt seines gesamten Lebenswerks bestimmt. Denn weder Ton noch Wachs oder Stein lassen sich so handhaben, wie Rating mit dem Holz umgeht. Während die Modelleure eine schmiegsame Masse formen, die sich dem geringsten Druck der Finger fügt, und die Skulpteure ihre Figuren und Formgebilde aus einem großen Block herausschlagen, setzt Rating seine Plastiken aus Hunderten von Teilen unterschiedlichster Größe zusammen. Ein ansehnlicher Bestand von Stechbeiteln und handgeschmiedeten Äxten jeder Größe ist da vonnöten. In diesem Vorgehen - der Synthese von Einzelelementen gleicht seine Arbeitsweise eher der eines Metallkonstrukteurs oder eines Architekten, der aus vielerlei Details ein Ganzes baut. Halt geben Ratings Plastiken Splitter verbindende Holzstifte, die stets ein wenig über die Außenhaut hinausragen, gar nicht verborgen werden sollen. Im Gesamteindruck der Kunstwerke, zuweilen sind es Reliefs, meistens aber Plastiken, die umkreist werden wollen, damit sie sich in ihrer ganzen Vielseitigkeit zeigen können, verstärken die Holznägel unauffällig die betont handwerkliche Note. Durch Beize wird die Oberfläche optisch geglättet, zusammen mit der im Eichenholz enthaltenen Gerbsäure entwickelt sie ein tiefes Schwarz, in Ratings Augen die wichtigste Farbe überhaupt. Sie betont die Schatten und erzeugt eine geheimnisvolle Aura. Immer aber lichtet sich die Dunkelheit an einigen Stellen zu einem feurigen rot und intensiven Blau auf. "Mit der Farbgebung will ich der physischen Dominante von Raum, Zeit und Masse psychische Energie entgegensetzen." Sein Gestaltungsprinzip, wonach aus dem Kleinen das Große wächst, gleicht dem der Natur. Es entspringt nicht etwa nur der Lust am Spiel mit Formen, sondern ist Ausdruck von Sinn. "Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen", dichtete schon Goethe, als er auf die richtige Naturbetrachtung hinweisen wollte, um dann zusammenfassen: "Kein Lebendiges ist Eins, immer ist's ein Vieles." Wie die Natur nach dem Ganzen strebt, so auch der Mensch. Ratings Kunst spiegelt diese Sehnsucht nach einem Zustand, der in der Bibel mit dem Bild des Paradieses beschrieben wird. Doch es ist verloren, und Ganzheit kann nur wiedergewonnen werden, indem die sokratische Maxime "Erkenne dich selbst" befolgt wird. Wenn der Mensch sich in seinen positiven und negativen Einzelzügen analysiert, kann es den Erkenntnisprozess einleiten, der zum Bewusstsein seiner selbst, zur Ganzheit, führt. Es sind immer solche psychischen Einzelaspekte, die Rating sich zum Thema seiner Plastiken wählt. So sieht er in der Gestalt des Sisyphos, der eine Freveltat büßen und unaufhörlich einen schweren Stein auf einen Berg wälzen muss, ein Symbol "für den Menschen, der sich selbst finden und diese Arbeit immer wieder anpacken muss, wenn er seine Ganzheit wiedererlangen will". In der Darstellung von Ratings Sisyphos deutet die Verschmelzung des Körpers mit einer hohlen Kugel darauf hin, dass der Mensch sich von manchem befreien muss, ehe er seine Ganzheit erreichen kann.




Hanns Theodor Flemming über Rating

Ansprache zur Vernissage in der Galerie Barlach 1987

Die beiden Pole, zwischen denen sich die maßgebliche Skulptur heute fast überall bewegt, sind Volumen und Raum, Block und Gerüst, Statik und Dynamik. Oder aus anders eingestellter Optik: das Körperlich-Dingliche und die Raumkonstruktion ... In beiden Bereichen wird die Skulptur in erster Linie als eine autonome Realität aufgefasst, die völlig frei und unabhängig sein soll von allem als wesensfremd empfundenen Ballast illusionistischer, imitativer oder literarischer Art und die sich parallel zur Realität der Natur und des menschlichen Lebens entfaltet. Eines aber ist allen ihren Tendenzen gemeinsam: Die »Formen des Lebens« und das »Leben der Formen« regen den Künstler in gleichem Maße an, bilden Ausgangspunkte für sein Schaffen, durchdringen einander oder halten in seinen Werken einander die Waage... Diese Gedanken zu einer zeitgemäßen Ästhetik der Skulptur, die ich in meiner 1964 in Bremen erschienenen Schrift »Figur und Raum in der Plastik der Gegenwart« erstmals publizierte, treffen auch auf die neuen Holzskulpturen des in Hamburg aufgewachsenen, seit langer Zeit mit seiner schwedischen Frau in Göteborg lebenden Bildhauers Matthias Rating zu, die in der Galerie Hans Barlach zum ersten Mal ausgestellt werden. Rating ist ein Bildhauer im Wortsinne, der seine Skulpturen aus dem zuweilen eisenharten Holzblock eigenhändig meißelt, ein »sculptor« in der lateinischen Wortbedeutung, die ihn von dem in weichem Ton modellierenden Plastiker grundlegend unterscheidet. Seine Werke sind aus alten nordischen Eichenstämmen geschnitzt oder geschlagen, wobei der gewachsene Holzkörper in seinen zugrundeliegenden Strukturen enthüllt und gleichzeitig durch Einkerbungen und Durchbrechungen zum Raum hin geöffnet wird. Auch in Ratings Werken bildet dabei das Leitmotiv »Volumen und Raum« ein Grundthema bildnerischen Gestaltens. Ihm geht es nach den eigenen Worten darum, »mit linearen Oberflächen und kontinuierlichen Linien die drei Dimensionen des Raumes in Bewegung zu versetzen und so eine Verdichtung der Raumgebung bei gleichzeitiger Provokation enger Formbeziehungen zu erreichen«. Um es einfacher auszudrücken: Der Werkstoff des Eichenholzes, zu dem Rating durch seine Ausbildung bei dem Oldenburger Paul Dierkes in Berlin und vor allem später in seiner Wahlheimat Schweden einen ungewöhnlich engen Kontakt gewann und den er mit erstaunlicher handwerklicher Kraft handhabt, wird in seinen Arbeiten nicht nur in der ihm eigenen gewachsenen Struktur sichtbar, sondern zugleich durch vielfältige Durchbrechungen, Zerklüftungen und Verdübelungen als raumverdrängende und raumumschließende Skulptur haptisch erfahrbar gemacht. Anders als die im Winter 1984/85 bei Hans Barlach gezeigten früheren Werke, in denen die sperrigen, spröden oder eingerissenen Formen des Holzes unmittelbar zum Ausdruck kamen, sind die neuen Eichenholzskulpturen farbig gefasst und dadurch noch reicher, vielschichtiger und lebendiger geworden. Der »physischen Dominante« von Raum, Zeit und Masse soll nach den Worten des Künstlers durch die Farbgebung »psychische Energie« entgegengesetzt werden. Dabei verwendet Rating selbst angeriebene Wachsölfarben, deren Pigmente mit Harzen angerührt und später noch dem Auftrag mit Wachs überzogen wurden, um die eigentümlich weichen Oberflächenreize zu erzielen, die der Bildhauer als ein ausgesprochener »Materialfan« erstrebt. Wie schon der 1961 verstorbene Karl Albiker in seiner postum erschienenen Schritt »Das Problem des Raumes in den bildenden Künsten« betonte, vermag der Bildhauer unser Raumgefühl in besonderer Weise zu aktivieren, ja den Raum als »emotionalen Faktor« in sein Werk einzubeziehen. Dieser emotionale Faktor des Raumes findet bei Rating seinen suggestiven skulpturalen Ausdruck, und zwar nicht nur in den sperrigen, spröden, vielschichtig eingekerbten Formen, die an Äste, Keulen oder Knochen erinnern, oder den zuweilen absichtsvoll dissonanten Farben, sondern auch in den hintergründigen Titeln, die er seinen Arbeiten nachträglich verleiht. Der Dialog zwischen der vegetativen Natur und dem formbewussten Individuum oder- wie Rating es formuliert -von »ideellem Gegenüber« und »existentieller Struktur« bildet die über die eigenhändige Leistung und formale Konzeption hinausweisende bildnerische Aussage seiner Werke. Aus ihrer skulpturalen Botschaft resultiert auch die eigentümliche Magie und kunstvoll wiederhergestellte Ursprunghaftigkeit, die alle seine Arbeiten kennzeichnet und sie bei aller Verschiedenheit mit den magischen Idolen prähistorischer Epochen, der primitiven Kunst exotischer Völker oder auch den frühen Schöpfungen des skandinavischen Nordens verbindet. Diesem Bildhauer im Wortsinne ist im Medium des Eichenholzes etwas heute sehr Seltenes gelungen innerhalb der Vielfalt gegenwärtiger skulpturaler Ausdrucksmöglichkeiten einen vollkommen eigenständigen und unverwechselbaren Formenkosmos zu entwickeln, in dem Werkstoff und Gestalt, Form und Aussage untrennbar ja identisch sind.




Ute Klappschuweit über Rating

Kunsthalle Hamburg / 2006

Ich habe Matthias Rating als einen Menschen erlebt, der gerne von seinem bewegten Leben erzählt. Er wurde in eine interessante und spannungsreiche Zeit hinein geboren und hat oft gerade an den Orten gelebt, wo sich Geschichte zuspitzte. Als Künstler hatte er eine feine Sensorik. In seiner Art hat er sich mit dem Zeitgeschehen auseinandergesetzt. 1936 wurde er in Breslau geboren. Aber schon mit einem Jahr kam er nach Hamburg. Er wuchs in Övelgönne auf. Hier erlebte er die Kriegsjahre und die Bombardierung von Hamburg, aber auch unbeschwertes Schwimmen in der damals noch sehr öligen Elbe.
In den sechziger Jahren zog Rating mit seiner Frau Birgitta, die er in Schweden kennen und lieben gelernt hatte, nach Berlin. Es folgten aufregende Zeiten: die Kubakriese ängstigte die Menschen; die Mauer wurde gebaut, die Studenten revoltierten gegen jede Art von Autorität. M. Rating wurde an der Kunstakademie angenommen, studierte aber kaum dort. Statt dessen suchte er sich Marmorblöcke, eine unfreiwillige Hinterlassenschaft von Hitler und seinem Utopia-Architekten Speer, die um das sagenhafte Germania in Berlin entstehen zu lassen, Marmor hatten einschiffen lassen, der nun sinnlos in großen Blöcken im Tiergarten verstreut herumlag und sich dem jungen Bildhauer als kostbares Material anbot; und gleich vor Ort bearbeitet wurde.
M. Rating erkannte, dass die Hochschule der Künste ihm nicht wirklich weiter helfen konnte. Er fand eine ehemalige Schlosserei, in der er sich ein Atelier einrichtete und sein eigenes Werkzeug schmiedete. Hier begann er auch in Holz zu arbeiten. Inzwischen waren dem Paar zwei Töchter geboren wurden. Vor allem für Birgitta und die Kinder wurde die Situation im eingeschlossenen Berlin und in der chaotischen Studenten WG immer unerträglicher. Sie sehnten sich nach Natur und Weite. Als dann noch in einem Winter die Blockade zu Russland sich so auswirkte, dass keine Kohle zum Heizen mehr zu bekommen war, beschloss das Paar in Birgittas Heimat nach Schweden auszuwandern. Also zogen sie 1968 zuerst in die Nähe von Särö, später nach Göteborg. Hier begann eine schöne Zeit. Der Bildhauer bearbeitete schwedischen Granit. Er hatte erfolgreiche Ausstellungen verkaufte hin und wieder Skulpturen an die sehr kunstinteressierten Schweden. Erst 1988 zog das Paar wieder nach Hamburg. Man könnte meinen, die große Weite Schwedens müsste einen Bildhauer schweigsam und eigenbrötlerisch machen. Als Rating aber nach Hamburg zurückkehrte, versuchte er ganz im Gegenteil oder vielleicht auch deswegen(?) ein Büro namens "Kunstkontakt" zu eröffnen. Künstler und Sammler sollten hier zueinanderfinden und ins Gespräch kommen.
Rating machte nun die Erfahrung, dass bei den potentiellen Kunden ernsthafte Gedanken über Kunst und Leben gar nicht so gefragt waren. Es wurde eher leicht Konsumierbares, etwas Dekoratives für das Büro gesucht. Rating arbeitete mit Hans Barlach zusammen und lebte im Künstlerhaus Bergedorf. Auch hier wurde es bald zu eng. Die Nachbarn beschwerten sich über den Lärm, der bei der Bildhauerei entsteht und so suchte und fand der Künstler seinen Platz zum Leben und Arbeiten im alten Land in der Nähe von Lühe. Leicht fiel es dem Künstler über seine Vergangenheit zu erzählen. Seine Skulpturen sprechen eigentlich für sich und lassen sich vom aufmerksamen Betrachter deuten. Trotzdem will ich etwas Hilfestellung geben.
Ich habe darüber nachgedacht, mit welchen bekannten Bildhauern sich das Werk Ratings vergleichen lässt. Sicherlich hat er sich mit dem Werk von Ernst Barlach, dem ebenfalls großen Frager und Gottsucher, auseinandergesetzt. Auch bei Barlach begegnen uns Leidende, Einsame, Fragende in Form von Figuren, deren Gestalt aus dem geschlossenen Block herausgearbeitet wurde. Barlach gibt seinen Figuren leidenschaftlichen Ernst und tragische Ausdruckskraft. Er hat das Werk vieler Bildhauer der nachfolgenden Generation geprägt. Die Dramatik und den Ernst fand ich auch im Werk Marino Marinis der seine Pferde meistens mit Reiter straucheln und stürzen lässt. Ebenfalls sehr bekannt, wenn auch nach wie vor umstritten sind die Enviroments von Hridlicka. Dieser Bildhauer setzte sich zum Beispiel mit der unmittelbaren Vergangenheit der Deutschen auseinander und stellte neben das Kriegerdenkmal am Stephansplatz sein Schreckensbild vom Krieg: Gemetzel, zerstückelte Gliedmaßen und Leichenberge. Seine Arbeit soll verstören und erschrecken. In ihr ist nichts Versöhnliches, aber auch Nichts, was uns weiterführt.
Matthias Rating stellt sich ebenfalls den großen Themen des Lebens und des Todes. Wie Hridlicka stellt er nicht einzelne Figuren dar, sondern er bindet den Menschen ein, in ein kosmisches Geschehen. Seine Motive findet er in der Religion, in der Mythologie, aber auch in seinen Träumen. Anders als die meisten anderen Holz und Stein-Bildhauer bemalt er seine Skulpturen mit klaren Farben: Rot, Schwarz, Weiß, Blau. Die Farbe unterstreicht die Aussage der einzelnen Bildelemente und macht sie noch ausdrucksstärker.
Erst mit den Jahren stellten sich diesem Künstler so drängend die Fragen: "was geschieht mit dem Menschen in der Welt?" und "was ist nach dem Tod?", dass er versucht in seiner Kunst eine Antwort zu finden. Er sagte selbst, "Diese Themen haben sich erst mit den Jahren entwickelt. Das war nicht immer so."
Und weil er ein Bildhauer ist, spricht er nicht über seine Ideen, sondern er bearbeitet mit Stichsäge und Bohrmaschine schwere Sperrholzplatten er dübelt und schnitzt, bis seine Gedanken Materie geworden sind. Im Vergleich zu kompakten Holzskulpturen wirken Ratings Arbeiten fast fragil und zerbrechlich. Wer sich ernsthaft darauf einlässt, kann die Seiten seines "Holzbuches" lesen. Von Schmerz ist die Rede, von Angst und von der Überwindung der Angst. Im Christentum hat Christus das Kreuz überwunden und erscheint als ein Triumphierender, der zum König im Himmel gekrönt wird. Bei Mathias Rating ist die Überwindung des Schmerzes, wie auch das Verschmelzen mit dem Kosmischen nur eine Station auf einer Reise die weitergeht, mit dem Mondschiff zu einem neuen Leben mit neuen Verwirrungen und Ängsten. Das Leben ist kein Spaziergang, sondern ein Kampf ohne Sieg, der trotzdem gekämpft werden muss. Einige Motive erscheinen immer wieder: Das Schiff, das gleichzeitig das Schiff des Lebens oder die Barke des Todes sein kann. Der Kosmos wird durch die vollkommene Form der Kugel dargestellt.
Es finden sich aber auch die Planeten, die Scheibe, und die Spirale in diesem Zusammenhang. Der Mensch erscheint als Tanzender, als der, der im Kosmos geborgen ist. Aber auch auf das Rad des Lebens ist er gebunden und ein ins Feuer Geworfener.
Endlich triumphiert er als Auferstandener und als Wiedergeborener. Doch auch das ist nur eine Erscheinungsform. Von Neuem wird er ins Leben geworfen.




Dr. Jürgen Fitschen über Rating

Ansprache zur Vernissage im Rathaus Stade / 2014

Über die Summe der Teile hinaus
Einige Bemerkungen zum Werk des Bildhauers Matthias Rating

1
Der Bildhauer Matthias Rating macht es einem zunächst nicht ganz leicht, über ihn und sein Werk aus anderen Quellen als seine Kunst etwas zu erfahren. Wer nach Motiven, nach Erfahrungen und nach Lebensmittelpunkten sucht, von denen aus man Skulpturen und Druckgrafik beurteilen und einschätzen kann, wird zweifelsohne enttäuscht. Sehr sparsam nur gibt Rating von sich etwas Preis: Wenn die heutzutage übliche Homepage von Künstlern beileibe nicht geizt mit Hinweisen auf Preise, Stipendien, Werke im öffentlichen Raum, Projekte, Publikationen, Presseerklärungen und so weiter, so fehlt das überwiegend bei dem seit einem Jahrzehnt im Alten Land, vor den Toren Hamburgs an der Unterelbe, lebenden und arbeitenden Künstler. Sogar das Geburtsdatum bleibt fraglich, nicht einmal ein Hinweis auf seine Herkunft (geboren in Breslau, aufgewachsen in Hamburg) wird gegeben. Man ahnt, dass ihm Biografisches nicht allzu wichtig erscheint, um seine Kunst zu begreifen, und das, was darüber zu sagen ist, möglichst aus dem Werk selbst erschlossen werden soll. Das alles hat sein gutes Recht. Und doch spiegelt sich im jetzt schon über fünf Jahrzehnte andauernden Schaffen von Matthias Rating natürlich auch ein guter Teil der in ihren systematischen Zusammenhängen noch nicht erfassten norddeutschen Kunstgeschichte – sagen wir mal seit dem zweiten Weltkrieg – in spannenden und aufschlussreichen Kapiteln. Diese runden die Kenntnis dessen, was man über das Werk aus ihm selbst heraus vermitteln kann, nicht nur ab. Über die motivische Welt hinaus, die man dieser Kunst entnehmen kann, lässt sich darüber hinaus nachvollziehen, was Bildhauerei im 20. Jahrhundert war und wie sich die Gattung verändert hat.

2
Das ist nur Abbild des Wandels, der uns alle (die wir in dieser Zeit existieren) geprägt und geformt hat und Anlass genug, kursorisch zusammenzutragen, was Matthias Rating gesehen haben mag. Ich beschränke mich aus nachvollziehbaren Gründen auf einige wenige Punkte, auf die Matthias Rating selbst Hinweise gegeben hat. Immerhin erfahren wir, wo und wann er studiert hat: Nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in London begann er 1961 in Westberlin an der Hochschule der Künste in der Hardenbergstraße, in der Nähe des Bahnhof Zoologischer Garten, das Studium der Bildhauerei. Wer mit Rating heute spricht, wird hören, dass das Studium ihm nicht viel bedeutete, dass es deshalb auch so kurz gewesen sei (bis 1964), dass es ihm auf das „Machen“ angekommen sei und seine Aufenthalte dort (in den Ateliers und den Freiflächen der Steinbildhauer an der Hochschule zum Campus der Technischen Universität hin gelegen) sehr spärlich gewesen seien. Das stimmt. Es stimmt aber auch, dass mindestens ein Einfluss am Ende nie zu leugnen ist: In den Auffassungen des Lehrers und dessen Werk liegen für die überwiegende Anzahl aller jungen Künstler die erste künstlerische Position vor, zu der sie sich ganz natürlich verhalten müssen. Sie können sie annehmen (viele tun dies als Adepten oder „Weiterentwickler“) oder sie ablehnen und im Widerspruch zu einer eigenständigen Form gelangen. Selbst wenn sie sie scheinbar gleichgültig zur Kenntnis nehmen, liegt darin doch immer noch ein Statement vor, aus dem sich das „Eigene“ beschreiben lässt – ex negativo. Die Hochschule der Künste in Westberlin, die nach dem zweiten Weltkrieg aus der Verschmelzung der Vereinigten Staatsschulen für Kunst und der Pädagogischen Hochschule hervorgegangen ist, hatte sich in den fünfziger Jahren zu einer bedeutenden Institution entwickelt, an der nicht nur der erste grundsätzliche Streit über die Frage der Ausrichtung der deutschen Kunst (Figuration versus Abstraktion) stattgefunden hatte, sondern auch bedeutende Maler und Bildhauer der Nachkriegsgeneration eine Vorstellung von den Aufgaben der Kunst nach der großen Katastrophe der Nazizeit zu vermitteln versuchten. Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff, die vom ersten Direktor der Hochschule, Karl Hofer, berufenen Brücke-Expressionisten auf der Seite der Maler und Karl Hartung, Paul Dierkes und die jünggen Hans Uhlmann und Bernhard Heiliger auf der Seite der Bildhauer standen seit den späten vierziger Jahren nicht nur für die Integrität und künstlerische Autorität der Kunsthochschule, sondern auch für dezidierte Richtungen. Gerade in der Bildhauerei war die Konkurrenz der künstlerischen Auffassungen besonders ausgeprägt. Berlin galt seit 200 Jahren als eine der deutschen Hochburgen der plastischen Gattung und hatte seit Johann Gottfried Schadow (1764-1850) eine starke eigenständige (preußische) Bildhauertradition ausgebildet, die zu brechen (ungegenständliche Stahlplastik á la Heiliger und Uhlmann) oder verändert fortzuführen (wie die bereits aus ideologischen Gründen 1950 und 1951 von der Kunsthochschule entfernten figürlichen Bildhauer Gustav Seitz und Waldemar Grzimek das wollten) zwei unversöhnliche Lager hervorbrachte. Beide Lager bemühten sich freilich um eine neue Bildhauerei, deren Aufgaben und Verständnis sich aus den Lehren der unheilvollen Geschichte Deutschlands ableiteten. Bis heute wirken sie nach. Am Ende der fünfziger, am Anfang der sechziger Jahre hatten sich die Fronten wohl in Berlin geklärt. Es erwuchsen allerdings neue, internationale Orientierungen im Rheinland, im äußersten Westen der Bundesrepublik. 1961 ist das Jahr, in dem Joseph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie den Lehrstuhl für Monumentale Bildhauerei antrat und damit für immer den Begriff von Skulptur und Plastik verändern sollte. Dort hörte man das erste Mal von Land Art, Minimal Art, Happenings, Medienkunst und Pop Art, die aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland übergriff. Die Schwergewichte unter den künstlerischen Zentren Deutschlands verlagerten sich noch einmal, und seit diesen Tagen ist die Alternative Düsseldorf (Konzept) oder Berlin (Werkorientierung) eine grundsätzliche geblieben, zwischen der sich junge Studenten der Bildhauerei entscheiden müssen. Wie viele Norddeutsche wandte sich Rating nach Berlin, in die sicherlich existentiellere Situation – im Jahr des Mauerbaus, in einer Zeit, da die hässlichen Wunden des Krieges nirgendwo sonst so gegenwärtig waren wie in der ebenso unwirtlichen wie spröden Stadt. Bemerkenswert auch: Der junge Student landete an der Hochschule der Künste in der Klasse von Paul Dierkes, dem einerseits stark an den traditionellen Werküberlieferungen hängenden Stein- und Holzbildhauer, dem jedoch andererseits Materialgerechtigkeit viel bedeutete und der seine Form in zeichenhafter Abstraktion und grundsätzlichen geometrischen Formüberlegungen suchte. Architekten schätzten deshalb seine Kunst: Dierkes hat in Berlin nachhaltige Spuren hinterlassen und bei bedeutenden Projekten mit Egon Eiermann, Peter Poelzig und Sep Ruf zusammengewirkt. Anders als viele seine Kollegen (vor allem Heiliger und Uhlmann) war er ein zurückhaltender, wie wohl selbstbewusster Mann, der nicht so viel Aufhebens um seine Kunst machte.

3
Wenn wir Matthias Rating in den kommenden Jahrzehnten vor allem als Steinbildhauer tätig sehen, dann hat das hier seine Ursprünge. Freilich: Gerne zog der junge Bildhauer durch die Metropole, um draußen „sich dem Stein zu stellen“ – insbesondere an den von Albert Speer überall im Tiergarten hinterlassenen Belastungsblöcken aus Marmor, auf denen einst „Germania“ entstehen sollte. 1968 war damit Schluss. Rating und seine aus Schweden stammende Ehefrau zogen sich aus Berlin zurück und siedelten nach Schweden über. Damit geriet ein neues Leben in Reichweite und – jedenfalls für das deutsche Kunstpublikum – die Entwicklung seines Werkes aus der Sichtweite. Was wir wissen: Es war eine erfolgreiche Zeit für den Bildhauer, der mit „Berliner“ Steinbildhauerei reüssierte und viele Plätze im öffentlichen Raum und bei privaten Sammlern besetzte – zunächst in Säro, dann in Göteborg. Und doch wurde in Schweden die Holzskulptur nicht zufällig in den kommenden Jahrzehnten eine wesentliche Aufgabe, deren Gestalt den Bildhauer nun wiederum ausweist als ein Mitglied jener Generation von deutschen Künstlern, die neue Wasser aus alten Brunnen schöpften und der Gattung ein anderes Gesicht gaben. Am Ende der siebziger, am Beginn der achtziger Jahre bildete sich dann offensichtlich der Kanon der Motive und Symbole heraus, für die Rating heute noch bekannt ist und die zu erschließen an seinem Werk ohne weiteres möglich ist. Nicht zufällig begannen viele Bildhauer in Europa, sich wieder mit Holz zu befassen und an bildhauerische Erfindungen anzuknüpfen, die der Expressionismus in den zwanziger Jahren hervorgebracht hatte. Mit den zum Teil weit überlebensgroßen Holzskulpturen erregte Matthias in seiner ursprünglichen Heimat viel Aufsehen. Wohl kannte man die aus dem ganzen Stamm geschlagene Figur ebenso wie das ungegenständliche Zeichen in Holz. Matthias Rating aber zergliederte nun den im aus der Steinbildhauerei nur zu bekannten „Block“ in zahllose Teile, begann Fundstücke zu sammeln mit eigner Nutzungsgeschichte, fügte, baute und schichte sie an-, auf- und übereinander zu monumentalen „Symbolapparaten“ – zunächst noch holzsichtig und monochrom, kaum einige Jahre später gefasst in kräftige Grundfarben und Kontrasten von hell und dunkel, schwarz und weiß. Das alles hatte es in der Bildhauerei vorher nicht gegeben und entstand nun als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, noch bevor es allenthalben in Westdeutschland von jungen Künstlern aufgegriffen und in der Öffentlichkeit bekannt wurde. In Hamburg hatte Hans Barlach, der noch junge Enkel des weithin bekannten und auch in Hamburg gut bekannten Ernst Barlach, zunächst in Eppendorf, dann auch an anderen Stellen der Stadt Kunsträume eingerichtet, die der Galerienszene in der Freien und Hansestadt in den achtziger Jahren für zehn Jahre ein ganz anderes Gesicht gaben und Orte kreativen Austausches und Einfallstore für die internationale Gegenwartskunst in Hamburg waren, noch ehe sich öffentliche Institutionen dieser Aufgabe auch nur annähernd angenommen hatten. Zweimal holte Barlach den „schwedischen“ Bildhauer nach Hamburg und stellte 1982 und 1987 dessen Holzskulpturen aus. Er verschaffte Rating zugleich jene Grundlage, auf der sich die schließlich eher aus persönlichen Gründen notwendige Rückkehr nach Deutschland vollzog. Seit 1988 ist Matthias Rating wieder in Hamburg und sucht seine bildhauerische Botschaft im Einklang mit den wesentlichen Grundlinien der künstlerischen Entwicklung in Deutschland zu vermitteln: „Mein Anliegen als bildender Künstler ist es: Divergierende materielle Strukturen zu einem thematisierten Ganzen zu ordnen, über die Summe seiner Teile hinaus.“

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Wie alle gute Kunst beschränkt sich Matthias Ratings Werk nicht darauf, nach der konkreten Erzählung, dem plastischen Abbild einer Geschichte, eines Sachverhalts, eines Tatbestands oder eines Zustands zu schielen und sie möglichst anschaulich und „wahrheits-“, das heißt naturgetreu wiederzugeben. Weil den guten Bildhauern Formfragen viel bedeuten, ist das bei ihnen nie der Fall. Ein Thema, das eine Plastik unmittelbar veranlasst, steht bei „freien“, von Aufträgen unabhängigen Werken oft nicht am Anfang. Es kommt oft genug vor, von der Form ausgehend aus mehr oder weniger zufälligen Gründen, jedenfalls nicht systematisch, nach einem adäquaten Inhalt gefahndet wird, der einem Werk sogar nachträglich einen „literarischen“ Zusammenhang verschafft. Dieser passt dann zum plastischen Werk, weil sein wesentlicher prosaischer, epischer, mythologischer oder allegorischer Gehalt etwa dem strukturellen Ausdrucksgebaren der betitelten Figur entspricht. Manchmal verbindet sich das auf diese Weise gefundene „Thema“ mit der stets aufs Neue versuchten Lösung eines Formproblems, aber es bleibt doch in der Regel nur ein Etikett. Es gibt allenfalls einen Hinweis auf Deutungsmöglichkeiten – so zum Beispiel, wenn die Namen von Gestalten der antiken Mythologie oder allegorische Bezeichnungen als Werktitel erscheinen –, formuliert jedoch nicht den Anspruch an das so bezeichnete Werk, ein Porträt, eine Geschichte oder eine Tatsache gültig und vollständig zu beschreiben. Dies ist oftmals auch dann der Fall, wenn ein Auftragswerk entsteht, das mit der dezidierten Aufgabenstellung an einem Bildhauer vergeben wird, ein politisches Thema, eine bestimmte Persönlichkeit oder ein historisches Ereignis zu berücksichtigen. Der gute Bildhauer kleidet es in die Form, die ihn beschäftigt und die nach wie vor sein hauptsächliches Anliegen ist. In diesem spiegelt sich Verfasstheit und politische Ansichten ebenso wie Grundüberzeugung über das Dasein wider, darin offenbart sich vom Charakter einer bestimmten Zeit (einer „Epoche“) so viel wie von persönlichen Sichtweisen über den Zustand der Welt. Gute Bildhauerkunst folgt zunächst einmal ihren eigenen gestalterischen Regeln, ehe sie erzählen will, und zu diesen gehören: Die Stringenz ihres Aufbaus. Jedes Motiv, jedes Glied soll in der organischen Anordnung des Ganzen seinen sinnfälligen Platz haben und von daher begründet sein. Die Logik der Architektur: Ob Tragen oder Lasten, Schwere oder Leichtigkeit der Erscheinung, Bewegen oder Ruhen, stabiles Stehen oder labiles Hinsinken, luftig oder kolossal, ob exaltierter oder introvertierter Habitus – alles muss anschaulich werden im „sehenden“ Untersuchen einer solchen Gestalt. Das unerklärbare Rätsel: Und trotz all dieser aus dem schöpferischen Geist und aus der Erfahrung kommenden Gestaltung bleibt ein rätselhafter Rest des Ungefähren, Intuitiven und Unfassbaren, der Geist einer Ästhetik, die uns ein Kunstwerk zu einem manchmal fast magischen, jedenfalls merkwürdigen oder besser denkwürdigen Erlebnis machen kann.